Freunde sind die neue Familie…

Ich saß auf dem Badewannenrand und drehte die Verpackung in meinen Händen. Sie war blau, mit einem Foto des Tests und einem lachenden Baby auf der Vorderseite. Natürlich zeigte der Test ein positives Ergebnis. “1-2”, stand auf dem Display.

Ich kontrollierte noch mal meine Unterhose. Immer noch keine Blutung in Sicht. Keine Verfärbung ins Bräunliche, nicht mal ins Gelbliche, die ich eigentlich spätestens gestern Mittag hätte bemerken müssen.

Allem Anschein nach war heute also mein zweiter Nicht-Menstruations-Tag.

“Fünf Tage früher Gewissheit!”, versprach der Test. Die fünf Tage hatte ich mich dieses Mal zusammengerissen. Das war jetzt schon mein vierter Versuch, und im Laufe der vorherigen drei hatte ich festgestellt, dass es mir lieber war, noch ein paar Tage länger hoffen zu können, auch wenn diese Hoffnung sich schließlich als falsch herausstellte. Aber jetzt war ich schon den zweiten Tag überfällig, ich hätte also schon seit sieben Tagen diesen Test machen können.

Einen Tag würde ich noch schaffen. Ich vergrub den Test wieder in der Medikamentenkiste unter dem Waschbenken-Unterschrank.

Schon kurz vor vier. In einer Viertelstunde musste ich am Alexanderplatz sein. Ich hätte also eh keine Zeit mehr gehabt, um den Test zu machen.

Außerdem, bloß nicht zu viel erwarten. Spätestens heute Abend würde ich das Ergebnis doch auch ohne Test erfahren.

Niemand außer mir stieg um diese Uhrzeit an diesem Bahnhof aus, oder ein, denn die Züge Richtung Berlin hielten hier erst ab sechs Uhr. Verglichen mit anderen Orten, die zwar geografisch im Einzugsgebiet von Berlin, aber wirtschaftlich noch immer in Nachwende-Niemandsland lagen, ein absoluter Luxus. In den frühen Neunzigern war die Haltestelle stillgelegt worden. Erst vor etwa fünf Jahren hatte – laut eigener Aussage – das “Kollektiv für Umwelt- und Klimagerechtigkeit” dafür gesorgt, dass wenigstens die Wochenendzüge wieder eingesetzt wurden. Das Hauptargument damals war der Verweis auf den örtlichen Pferdehof als “wichtiges touristisches Ziel in einer ansonsten strukturschwachen Region” gewesen. Der eigentliche Grund, aus dem sich das KuK für die Wiederaufnahme des Bahnbetriebs, vornehmlich an den Wochenenden, eingesetzt hatte, war der sichere Rücktransport von Nachtschwärmern aus Berlin gewesen – das zumindest erklärten meine von hier stammenden KollegInnen. Selbiges Kollektiv war vermutlich auch verantwortlich für den Spruch “Ohne Bäume keine Träume”, der in grün-gelb-roten Buchstaben am zugemüllten Wartehäuschen prangte.

Zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt sollte auf einem Stück Waldfläche neben dem örtlichen Badesee, einer ehemaligen Braunkohlegrube, eine Automobilfabrik entstehen. Dort sollten vornehmlich Elektroautos gebaut werden. Das KuK war trotzdem dagegen. Seine Mitglieder befürchteten vor allem ein weiteres Absinken des in dieser Region ohnehin schon niedrigen Grundwasserspiegels. Der Wald war – unter großem Protest des KuK und anderen – bereits gerodet worden, aber erst ein Teil der Fläche war vollständig erschlossen. Auf diesem Teil waren weder Bomben noch Bodendenkmäler gefunden worden, und so hatte die Gemeinde eine teilweise Baugenehmigung erteilt, und mittlerweile waren die ersten Fabrikgebäude in Betrieb genommen. Seitdem hielt der Zug sogar unter der Woche wieder.

Ich war allerdings nicht hier, weil ich für den Automobilhersteller arbeitete, sondern für das Landesamt für Denkmalpflege. Denn während der Erschließung der zweiten Hälfte des Baugrundstücks, das teilweise ans Ufer des heutigen Badesees grenzte, war doch noch eine Bombe geplatzt: Bei der verpflichtenden Routineuntersuchung auf Bodendenkmäler entdeckten die Archäologen einer privaten Grabungsfirma auf den von einer Drohne geschossenen Luftbildern zunächst leichte Absenkungen, die zwar für Laien gerade noch zu erkennen, aber in ihrer potentiellen Bedeutung nicht zu erfassen waren. Dementsprechend entnervt reagierte der Bauherr, als man ihm die Bilder vorlegte und die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen ankündigte. Es wurde eine Probegrabung durchgeführt, bei der Fragmente von Ziegeln, Krügen, Füßchenschalen und Bechern gefunden wurden, die, soweit man erkennen konnte, mit Schlingen- und Zickzackmustern verziert waren. Das Alter der Ziegel und einiger Becher wurde auf circa 7500 Jahre bestimmt.

Das Landratsamt Winterfelde verhängte eine zunächst auf vier Wochen begrenzte Baueinstellungsverfügung für den Teil des Geländes, der unmittelbar an die Fundstellen grenzte, denn zunächst sah es danach aus, als seien die Funde auf einem relativ überschaubaren Areal von der Größe eines halben Fußballfeldes angesiedelt. Leider erfüllten sich die schlimmsten Befürchtungen des Bauherrn dann doch noch: auch an anderen Stellen des noch unbebauten Geländes wurden mesolithische Siedlungsspuren entdeckt. An diesem Punkt wurde das Landesamt für Denkmalpflege eingeschaltet, der Baustopp wurde auf sechs Monate verlängert und MitarbeiterInnen speziell für diese Grabung eingestellt, darunter auch ich.

Am Bahnhofshaus vorbei mit seinen eingeschlagenen Fenstern und den Bierdosen auf der Türschwelle führte zwischen Kiefern und Buchen ein schmaler Pfad zur nächsten befahrbaren Straße, die auch die Hauptstraße von Joschow war. Das Dorf selbst hatte nicht einmal zu seinen besten Zeiten mehr als dreitausend Einwohner gezählt, und diese Zeiten waren Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen, als das hier ansässige preußische Landgestüt seinen höchsten Bestand zählte. Selbst die Eröffnung der Braunkohlegrube “Erika” im Jahr 1934 konnte den Rückgang der Einwohnerzahl nur kurzfristig anhalten. Nun waren es gerade mal eintausend, und das, obwohl in den letzten fünfzehn Jahren wieder Menschen zugezogen waren. Vornehmlich handelte es sich dabei um New Age-bewegte Berliner, die sich auf der Suche nach dem authentischen Lifestyle in diversen Communities zusammenfanden, sich aber in aller Regel innerhalb von einem bis drei Jahren so sehr zerstritten, dass sie sich entweder bei einem Anwalt für Grundstücksrecht oder gleich bei Gericht wiedersahen. Der harte Kern der Dorfgemeinschaft, aus denen sich der Großteil meiner KollegInnen rekrutierte, hatte mit den Zugezogenen manchmal seine Probleme. Aber obwohl ich schon seit über fünf Monaten hier arbeitete, so richtig hatte ich das wer mit wem und warum noch nicht durchschaut.

Die Hauptstraße hätte ich mit verbundenen Augen überqueren können, und zwar nicht nur um diese frühe Uhrzeit. Abgesehen von den zwei Malen im Jahr, an denen in einem der Nachbarorte ein Cross Country-Motorradrennen abgehalten wurde, was Menschen aus ganz Brandenburg und darüber hinaus anlockte, fuhren hier höchstens zwei Autos in der Stunde entlang, und die hätte selbst ich als zivilisationsgeschädigte Großstädterin aus anderthalb Kilometern Entfernung heranfahren gehört. Auf der anderen Seite der Straße begann ein Feldweg, wie ich ihn anderswo vor zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen hatte. Nach ungefähr zweihundert Metern befand ich mich auf dem Gelände des Pferdehofs, mutmaßliches touristisches Zentrum und Überbleibsel des ehemaligen Landgestüts. Es waren schon einige Pferde draußen zu sehen, ein paar Fohlen standen etwas abseits von ihren Müttern und rupften vorsichtig am Gras, ohne es wirklich zu fressen. Die Mütter hatten ihre Köpfe zwar abgewandt, aber ihre Ohren schienen sich mit jeder Bewegung ihres Fohlens mitzudrehen, um ihm auf Schritt und Tritt zu folgen. Aus den Ställen war das Kratzen von Schaufeln auf dem Betonboden zu hören.

Bei dem Geruch von Pferdeäpfeln wurde ich immer etwas sentimental. Obwohl ich nie das gewesen war, was die meisten sich unter einem typischen Mädchen vorstellten, hätte ich gerne Reitstunden genommen. Ich wollte nie an Turnieren teilnehmen, um meinem Pony vorher Bänder in die Mähne flechten zu können oder Ähnliches, sondern sah mich mehr als Cowgirl auf einer der letzten richtigen Ranches irgendwo im Süden der USA. Gerade, als ich meine Eltern so weit hatte, mich wenigstens ein Mal probeweise zum Voltigieren gehen zu lassen, hatte ich einen Unfall. Im Krankenhaus wurde ein subdurales Hämatom festgestellt. Bei der OP wurden mir zwei kleine Löcher in den Kopf gebohrt, um das Blut abzulassen. Die Löcher und die dazugehörigen Narben verschwanden dankenswerterweise nach wenigen Monaten wieder unter meinen recht schnell nachwachsenden Haaren. Die winzigen Dellen, die zurückblieben, konnte außer mir niemand auch nur ertasten. Aber der Traum vom Reiten war ausgeträumt. Natürlich war es nur verständlich, dass meine Eltern sich wegen der Sturzgefahr sorgten. Aber das Hämatom war nicht mal durch den Unfall ausgelöst worden. Das hatte ich damals zwar nur geahnt, aber heute wusste ich es genau. Und es war mir mittlerweile vollkommen egal, ob mir jemand glaubte oder nicht.

Ich atmete den Duft von taunassem Gras und Pferdefell ein. Vielleicht würde ich ja mal ein Kind haben, das auch reiten wollte. Natürlich, man sollte seine Kinder nicht dazu benutzen, um seine eigenen geplatzten Kindheitsträume auszuleben. Aber falls, wirklich nur falls, mein Kind einmal reiten wollte, würde ich alles daransetzen, um es ihm zu ermöglichen. Manchmal sah ich hier sogar Kinder, die eigentlich im Rollstuhl saßen, auf einem Pferd sitzen. Und meine Eltern hätten mir diesen Wunsch mit viel weniger Aufwand erfüllen können. Egal. Ich würde mir durch diese Sache nicht den Tag versauen lassen. Wenn ich mich nicht beeilte, wären ohnehin schon bald die ersten meiner KollegInnen da, und ich arbeitete viel lieber allein.

Zumindest an den Tagen, an denen ich tierische Bauchschmerzen hatte und trotzdem noch hoffte, schwanger zu sein. Zum xten Mal in den letzten vier Monaten googelte ich „frisch schwanger vs. PMS“. Zum xten Mal las ich, dass es keine seriöse Möglichkeit gab, diese beiden Zustände voneinander zu unterscheiden.

„Frühschwangerschaft ist wie drei Monate PMS. Hoch zehn. Und dass man dabei wenigstens keine Blutungen hat, ist für zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent aller Schwangeren leider auch eine Illusion.“ Und darunter ungefähr zehn verschiedene Gründe, warum es in der Schwangerschaft zu Blutungen kommen konnte.

Ein Glück gab es hier draußen nur im unmittelbaren Umkreis des Pferdehofs Internetempfang, sonst würde ich mich hundertprozentig aller halbe Stunde auf das eklige Dixi-Klo verziehen, um zum hundertsten Mal zu googeln, ob Niesen zu der Art von ruckartigen Bewegungen zählte, die eine Einnistung verhindern konnte. (Antwort: Nein.)

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