In seinem Zimmer unter dem Dach stand die Luft. Die grün-weißen Lamellen der Jalousien zwischen den doppelten Glasscheiben waren spröde geworden und hielten weder tagsüber das Sonnenlicht noch nachts das Licht der Straßenlaterne vor dem Fenster ab. Marios Mutter fragte schon seit Jahren, ob sie nicht doch mal eine neue Jalousie besorgen sollten, auch, weil das alte Ding von außen ziemlich schäbig aussah. Mario hatte in Erinnerung an bereits überstandene gemeinsame Renovierungs- und Verschönerungsaktionen bisher vehement abgelehnt.
Heute war er kurz davor, das zu bereuen.
Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Eine Fliege krabbelte an seinem Bein entlang. Er war zu erschöpft, um nach ihr zu schlagen. Er stellte sich vor, die Fliegenbeine seien Fingerspitzen, die sanft über seine Haut strichen. Auf und ab. Erst vorsichtig, fragend, dann etwas ungeduldiger. Aber immer leichtfüßig, spielend. Mario stellte sich die Frau vor, zu der diese Hände gehörten. Sie war ein bisschen größer als er und ziemlich kräftig, was man rein von ihren Berührungen her erst mal gar nicht erwarten würde.
So wie Madeleine. Er stellte sich vor, sie würde jetzt hier vor ihm auf dem Bett sitzen.
„Na? Was machst du denn so ganz allein hier oben, bei dem schönen Wetter?“
Nein. Sowas Offensichtliches würde sie nie sagen. Er trat in die Luft, um die Fliege zu vertreiben. Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück und setzte sich mit einem penetranten Summen wieder und wieder auf seinen Arm, auf seinen Hals, auf sein Gesicht. Schließlich griff er in die Schublade unter seinem Bett, zog die Fleece-Decke heraus und rollte sich trotz der Hitze vollständig darin ein.
Madeleine ging ihm trotzdem nicht aus dem Kopf. Sie hatte blonde Locken und blaue Augen.
Und ziemlich weit auseinanderstehende Zähne.
Und einen blonden Flaum auf der Oberlippe, den man jetzt im Sommer noch deutlicher sah als sonst. Madeleine wurde deshalb von den anderen ausgelacht, was Mario ziemlich peinlich war.
Aber er war schließlich auch kein Standard-Mensch, also durfte er nicht von anderen verlangen, dass sie aussahen wie auf dem Cover eines Hochglanzmagazins.
Und obwohl es ihm peinlich war, musste er sich dauernd vorstellen, wie es wäre, sie zu küssen, ihre Zunge mit seiner Zunge zu berühren, mit seiner Zunge an den Lücken zwischen ihren Zähnen zu spielen.
Er hatte schon ein paar Mal mit ihr geredet. Sie war immer nett gewesen und hatte ihm interessiert zugehört. Aber er merkte genau, dass sie ihn seltsam fand, vielleicht sogar Angst vor ihm hatte. Sie erzählte nie viel von sich, aber er konnte einfach nicht aufhören, zu reden, wenn er in ihrer Nähe war. Sie dachte bestimmt, dass er sich nur wichtig machen wollte. Dabei wusste er ganz genau, was das Problem war. Er redete um den heißen Brei herum, weil er Angst hatte, sie würde ihn auslachen, wenn er die alles entscheidende Frage stellte.
Ob ich deine Freundin sein will? Wie stellst du dir das denn vor? Die Leute hassen uns doch jetzt schon.
Was sollte sie auch anderes sagen, so wie er aussah. Aber das würde sich bald ändern. Er wusste, sollte er sich für die Operation entscheiden, würde er selbst nicht mehr so viel empfinden wie jetzt. Das war es ihm wert.
Aber bevor er an sowas denken konnte, musste er sich erst mal um die Organe kümmern, die er schon hatte. Er griff sich in die Hose und tastete seine Leistengegend ab. Es fühlte sich angeschwollen an, und er spürte ein deutliches Ziehen in seinen Hoden. Er hatte schon öfter Schmerzen an genau dieser Stelle gehabt, schon als Kind. Er war mit seiner Mutter ein paar mal beim Arzt gewesen deswegen, aber der hatte ihn nur schnell abgetastet und dabei logischerweise nichts gefunden. Schließlich hatte er ihn und seine Mutter wieder nach Hause geschickt, mit den Worten, er sei halt ein kleines Sensibelchen.
Diesmal war es so schlimm, das konnten sie nicht wieder ignorieren. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, bei dem Gedanken daran, deshalb noch mal zum Arzt gehen zu müssen. Aber er hatte schon eine Ärztin in Freiburg gefunden, die sich mit sowas auskannte. Sie war Endokrinologin und behandelte eigentlich ausschließlich Kinder, was ein bisschen peinlich war in seinem Alter, aber besser, als die Alternative – hier im Dorf zum Urologen zu gehen, oder wer auch immer sich in diesem Nest für sowas zuständig fühlte.
Sie würden sie wohl entfernen müssen. Klar, was hatte er denn sonst für eine Option, wo sein Problem viel zu spät ans Licht kommen würde. Es musste sich entzündet haben. Er hatte das Gefühl, ein Alien hatte sich in ihm eingenistet und war kurz davor, aus seiner Bauchdecke herauszubrechen. Er hatte im Internet gelesen, dass Hoden, die zu lange im Bauchraum verblieben, eine dreißig-prozentige Wahrscheinlichkeit hatten, Tumore zu entwickeln. Wenn er an sich herunterblickte, war es wahrscheinlich schon längst so weit. Er war total aufgebläht, traute sich kaum, sich auf die andere Seite zu drehen, vor lauter Angst, dass er dadurch irgend etwas innerlich zum Platzen bringen würde.
Aber niemand hatte ihm geglaubt. Niemand. Dabei hatte er schon immer gewusst, wer er wirklich war. Er unterschrieb, seit er zehn war, nur noch mit seinem richtigen Namen.
Sollten sie doch lachen über ihn. Bald würden sie erkennen, wer er wirklich war. Spätestens, wenn sie ihn obduzierten, würde es ja wohl herauskommen, und dann würden endlich alle wissen, dass er nicht gelogen hatte die ganzen Jahre. Klar, manche würden es auch dann noch nicht kapieren. Aber sich trotzdem auf seiner Beerdigung herumtreiben und schlaue Sprüche klopfen, garantiert.
Madeleine war keine von denen, das wusste er. Sie würde sich wahrscheinlich nicht mal trauen, auf seine Beerdigung zu kommen. Aber er wollte sie so gerne dabei haben. Konnte man das? Vor seinem Tod jemanden zu seiner eigenen Beerdigung einladen?
Er wollte noch gar nicht sterben! Wie viel Zeit blieb ihm noch? Er hatte solche Schmerzen, der Tumor musste schon so groß sein, dass er auf seine inneren Organe drückte. Ihm wurde schlecht vor Angst. Was, wenn er es nicht mehr schaffte, Madeleine noch einmal zu sehen?
Er stand auf. Er befürchtete, seine Eingeweide würden jeden Moment aus ihm herausgequetscht werden. Er hatte bisher nicht mal beim Zahnarzt eine Betäubung gebraucht – aber das hier war jenseits von allem, was er jemals an Schmerzen erlebt hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen, schwer atmend und vor Schmerzen schwitzend, schleppte er sich zur Tür.
„Mama!“, rief er. „Ich glaube, ich sterbe.“
Seine Mutter musste an seiner Stimme gehört haben, dass etwas mit ihm wirklich nicht in Ordnung war, denn sie ließ das Geschirr ins Spülbecken fallen, riss die Küchentür auf und rannte zu ihm.
Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest, so wie sie es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Es tat ihm gut, ihre Wärme zu spüren.
„Ach Hase, ich weiß, das ist alles ganz furchtbar.“
Woher wollte sie das denn wissen?
Ein Mädchen aus seiner Schule war letztes Jahr an Leukämie gestorben. Das hatte man auch erst nach ihrem Tod herausgefunden. Sie war einfach umgekippt. Seine Knie fingen an zu zittern.
„Bei mir war es früher auch so schlimm.“ Seine Mutter drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Aber glaub mir, wenn du erst mal ein Kind hast, wird das alles besser.“
Mario stieß sich angewidert von ihr ab.
„Bist du bescheuert?“, rief er. Seine Stimme klang wieder so jaulend hoch, wie immer, wenn er sich aufregte. „Ich krieg doch kein Kind!“
„Was?“ Seine Mutter zog eine Augenbraue hoch und stemmte die Arme in die Hüften. „Ich kriege keine Enkelchen? Aber da freue ich mich doch jetzt schon drauf!“
Mario fing an zu heulen, obwohl er lieber den hässlichen Spiegel im Flur zertrümmert hätte. Wie konnte die Frau, die ihn geboren hatte, die doch zugegeben hatte, dass sie wusste, was mit ihm los war, so ignorant sein?
Aber sie hatte sich ja schon einmal geirrt. Sie hatte ihm nämlich zuerst seinen richtigen Namen gegeben, sie hatte ihm so oft erzählt, dass sie schon ganz früh wusste, dass er ein Mario werden würde. Sie hatte es gewusst, und eine Mutter irrt sich doch bei sowas nicht! Aber nach seiner Geburt hatte sie sich von so ein paar Quacksalbern gaslighten lassen und hatte seine wahre Identität sein ganzes Leben lang verleugnet. Das ging jetzt nicht mehr.
„Lüg doch nicht rum! Du weißt doch ganz genau, dass ich niemals Kinder kriegen werde. Du weißt doch ganz genau, warum ich diese Bauchschmerzen habe!“ Schluchzend (er hasste sich so dafür!) schmiss er die Tür hinter sich zu und warf sich aufs Bett.
Kurze Zeit später hörte er, wie Carolin aus der Wohnung unter ihnen die Treppe hoch polterte. Sie klopfte an die Tür.
„Alles ok bei euch?“
Seine Mutter öffnete die Tür.
„Hör bloß auf. Marion hat Liebeskummer und PMS. Es ist nicht zum Aushalten. Sei bloß froh, dass du keine Tochter hast.“